6AM.

Dass der Wecker samstags so früh klingelte, war nicht ungewöhnlich damals, die Arbeitswoche nicht von viel zu kurzen Wochenenden umrahmt, diese waren vielmehr unregelmäßig und spärlich verteilt, mal hier ½ Tag frei, mal da 2 Tage nicht dort sein. Alles immer nur kurze Atempausen, in denen ich nicht ganz bis zum Ausatmen gekommen bin und schon ging es weiter. Hatte das Gefühl für richtige freie Tage bereits verloren, war immer irgendwie da, immer präsent, in Gedanken immer beim Frittenduft, ausstehenden Bestellungen und wie der nächste Ausfall ersetzt werden kann. „Muss ich?“

 

Samstag, 5:30 und ich bin nicht auf dem Weg zur Frühschicht, sondern ans Meer. Eine dicke Decke im Kofferraum, meine blaue Wärmflasche unter den Gurt geklemmt, die Thermoskanne mit heißem Tee im Fußraum und eine Freundin auf dem Beifahrersitz, die ich noch gar nicht so lange kenne. 

 

Selten treffe ich Jemanden, bei dem es sich innerhalb kürzester Zeit so anfühlt, als wäre er mir nicht zufällig über den Weg gelaufen, sondern sowas wie der Teil eines größeren Plans und nicht nur ein Zwischenstopp auf der Route nach Irgendwo. Selten finde ich in einem anderen Menschen so viele von meinen eigenen verknoteten, verrückten Gedankenknödeln, die dann plötzlich, wenn man zusammen, jeder mit einem Ende zwischen den Fingern und 10 Kilo Wollschafe vor sich liegend, die es zu entknoten gilt, so beeindruckend viel Sinn ergeben. 

 

Sie hat eine graue Wärmflasche im Rücken, eine Thermoskanne zwischen den Füßen und eine Kuscheldecke dabei. Wir wissen nicht genau, was uns erwartet, folgen einem Tipp und überlegen erst auf der Autobahn, wo eigentlich die Sonne genau aufgeht. Man kann sie schon erahnen, wir fahren immerhin schon mal dem hellsten Teil des Himmels entgegen, die Nacht fliegt an uns vorbei, bleibt hinter uns zurück und macht Platz für etwas Neues. Kurz fürchten wir, es zu verpassen. Anzukommen und der Zauber ist schon vorbei. Den Moment verpassen, in dem die Welt gänzlich aufwacht, das Meer aus der Dunkelheit heraus blau und grau und wird und die Weite mit allen Sinnen spürbar vor uns liegt.

 

Wir schaffen es, auf die Minute perfekt. Es ist Ende September und ziemlich frisch, wir sitzen auf Steinen im Sand, wie Schnecken in unsere Decken gerollt, trinken abwechselnd Kräuter- und Fencheltee und erzählen. Über Liebe die uns 18.000 km weit weg über den Weg lief, über Freunde, mit denen man viel mehr teilt als nur den Arbeitgeber, über gebrochene Herzen und wie man das alles schaffen soll, das mit dem Vergessen und Entlieben, dem Egal werden und nicht mehr Hinterherrennen und endlich Weitermachen. Überlegen, wie viele Kilometer weit man reisen muss, um sich selbst zu finden und ob man sich nicht eigentlich sowieso immer dabei hat. Irgendwann zieht die Kälte immer tiefer in uns hoch und wir laufen los, immer an der Küste entlang, zwei Schneckenhaus-Mädchen, denen so egal ist, dass es irgendwie komisch aussehen muss, wir zwischen all den früh morgendlichen Joggern und Gassigehern, die nicht ihre Bettdecke mitgenommen haben. Mir fällt das Atmen schwer nach all den Wochen nicht genug Luft bekommen, ihr ist das Herz schwer, von Dingen, die man nicht verstehen kann, aber nun irgendwie akzeptieren muss. Es ist eine Auszeit für uns beide, wir laufen und laufen ohne das Gefühl von weglaufen, laufen uns entgegen und in mir drin flattert ein bisschen mein Herz vor so viel unerwartetem Glück. Ich habe nichts erwartet, dachte in einem vertrauten Pesimissmusanfall eher, es würde anstrengend werden - so früh raus, die Kälte des Tages, stets präsent sein. Ich vergesse das erste Mal seit langem für einige tiefer werdende Atemzüge, was mich so schwer fühlen lässt. Mein Herz bounced, denn wir haben eines dieser Gespräche dabei, die mir im Alltag häufig sehr fehlen. Eines, was nicht abbricht, man zusammen auf einer Welle treibt, die nicht abzuflachen scheint. Man riecht und fühlt und schmeckt alles um sich herum, fühlt sich verstanden indem man selbst versteht, was der andere fühlt. Es gibt Gespräche, da muss ich nachdenken, wo hin es als nächstes geht und ich fürchte, dass es abreißt und wir uns nichts mehr zu sagen haben. Es gibt uns, da gibt es keine Richtungsweiser und Überlegungen. Da trägt es sich selbst, inspiriert schon beim Zuhören und hinterlässt ein Gefühl von beflügelt sein und Glück zurück. Noch Tage später. Mit ihr genieße ich jeden Moment, weil sie es so leicht macht, einfach zu sein. 

 

Wir entscheiden frühstücken zu gehen, es ist gerade mal 10 Uhr und wir finden das beste Frühstück und den leckersten Kaffee der Stadt und es fühlt sich seit langem wieder so an, als wäre mein Körper und meine Seele gerade wirklich gerne an einem Ort. Als wären meine Sorgen kurz stillgelegt und alles etwas mehr wieder dahin gelenkt, wo meine Ausgeglichenheit und Dankbarkeit für Momente wie diese sich verstecken. Denke ich jetzt zurück an die schönsten Tage 2018 fällt mir dieser immer ein. Tage, über die man 1,5 Jahre später immer noch so lebhaft aus seiner Erinnerung schreiben kann, als wäre es gestern gewesen. Wir laufen weiter ziellos durch die Stadt bis wir irgendwann im Schwestercafe des ersten sitzen, exotischen Chai trinken und jeder ein wenig den eigenen Gedanken nach hängt. Wir schreiben für uns, es liegt so viel Raum, Kreativität, Zeit und Inspiration in der Luft und ich könnte ewig so sitzen bleiben, lesen, schreiben, Menschen beobachten und durch eine Schranktür aufs Klo gehen. 

 

Auf der Rückfahrt essen wir unser Bananenbrot to-go und ich schlucke es irgendwo zwischen Hals und Nase. 

 

Einer der Tage, die sich anfühlen, als wäre man durchgängig am Akkuladegerät angeschlossen, obwohl man eigentlich die ganze Zeit in Bewegung ist und vor Energie glüht. Einer der Tage, die mit keinerlei Erwartungen daherkamen und mit Erinnerungen für mehr als eine Schublade in meiner Bibliothek vorbeigingen. Einer der Tage, die herausstechen aus dem Alltagsbrei, dem Herzschmerz und der ständigen Anspannung. Einer der Tage, an den ich manchmal zurückreise um mich nochmal in das Gefühl zu kuscheln und wieder zu verstehen, dass es mehr von diesen Tagen geben kann, wenn ich es nur zulasse.

 

 

 

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